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24.08.2023 - "Eine Inobhutnahme passiert nicht aus dem Nichts heraus"


Über 20 Jahre arbeitete  Monika Boukari im Salberghaus und half Kindern und ihren Eltern in schwierigen Lebenslagen. Unter anderem leitete sie im Bereich Inobhutnahme und Bereitschaftspflege und wurde oft mit sehr schwierigen Situationen konfrontiert. Wie sie damit umging, was sich in den letzten Jahren verbessert hat und welche Geschichte ihr besonders im Gedächtnis geblieben ist erzählt sie im folgenden Interview anläßlich der 100-Jahr-Feier Salberghaus im Juli 2022:  


Was genau hat man sich unter einer Inobhutnahme vorzustellen?
Inobhutnahme ist erstmal ein juristischer Vorgang. Das heißt ein Kind ist in einer so gefährlichen Situation, dass keine andere Maßnahme genügt, um die Gefahr von dem Kind abzuwehren. In der Praxis heißt es, ein Kind wird aus der Familie herausgenommen. Eine Inobhutnahme passiert nicht aus dem Nichts heraus, meist weiß das Jugendamt schon länger Bescheid und fühlt vor. Die Lage ist manchmal so hoch eskaliert, dass die Situation, in der sich das Kind am Tag der Inobhutnahme befindet, ganz anders ist als die alltägliche: es ist vielleicht bei der Oma oder bei jemand anderem, da gibt es manchmal weite Kreise, das kann auch eine Freundin sein. Aus dieser Situation heraus muss das Kind aufgenommen werde, das zeigt eigentlich schon die vielfältigen Herausforderungen, die auf einen zukommen können, wenn ein Kind in Obhut genommen werden muss.

 Was steht für Sie im Vordergrund beim Prozess der Inobhutnahme?
Eine Inobhutnahme muss immer so durchgeführt werden, dass es für das Kind so schonend wie möglich passiert. Inobhutnahme ist ein potenziell dramatisches Erlebnis.
 

Monika Boukari          Foto: Salberghaus / Kathrein
Und was kann man tun, um es für das Kind einfacher zu machen?
Es ist vor allem wichtig, die Situation so gut wie möglich vorzubereiten. Wir bekommen heutzutage in der Regel Anrufe, manchmal noch eine Mail – wir versuchen immer, möglichst viele Informationen über die Situation zu bekommen. Man darf nicht vergessen, wir sind eine Einrichtung, die im stationären Bereich, Kinder im Alter von 0 – 6 Jahre aufnimmt. Da können sie sich wahrscheinlich schon vorstellen, wie vielfältig die Palette ist. Wichtig ist also, so viele Informationen wie möglich zu sammeln und ein Bild von dem Kind und von der Situation zu bekommen. Darauf kann man dann aufbauen, um die Inobhutnahme so schonend wie möglich zu gestalten. Am schwierigsten sind Inobhutnahmen mit großem Polizeieinsatz, wo es manchmal nicht zu vermeiden ist, dass die Kinder von den Eltern regelrecht weggerissen werden – das hört sich schlimm an, ist aber manchmal so, weil es da tatsächlich mit körperlichem Einsatz der Polizeibeamten nicht anders geht.
Am besten laufen Inobhutnahmen, wo es mit dem Einverständnis der Mutter ­– meistens sind es die Mütter  – geschieht. Ich arbeite seit 20 Jahren in der Inobhutnahme, aber mich erstaunt es immer wieder, wie häufig es gelingen kann im Sinne des Kindes zu handeln. Und wie viele Eltern, mit denen wir es zu tun haben, tatsächlich das Beste für ihre Kinder wollen, obwohl es ja erstmal eine Zwangsmaßnahme ist. Es gibt auch Eltern, die um eine Unterbringung des Kindes bitten, was sehr verantwortlich ist.
Im generellen ist es wichtig, die Eltern mit ins Boot zu holen, das kann die Situation fürs Kind um Längen bessern. Weil es dann auch Dinge gibt, die die Kinder mitnehmen können. Bei sehr kleinen Säuglingen zum Beispiel ein Tuch, das nach der Mutter riecht, oder ein Kuscheltier, sodass nicht alles neu und unvertraut ist, weil das natürlich die größte Herausforderung für die Kinder ist, sie kommen komplett aus ihrer vertrauten Umgebung und müssen sich auf alles Neue einlassen: neue Menschen, neue Umgebung, andere Kinder, da ist ein Begleiter einfach sehr hilfreich. Für ältere Kinder sind das dann oftmals mehr Sachen, das können die Schulsachen sein, die ein Kind mitnehmen kann. Es sollte nicht zu viel sein. Sonst ist es unüberschaubar. Sehr hilfreich ist es auch, wenn wir von den Müttern wichtige Gewohnheiten der Kinder übermittelt bekommen, zum Beispiel, das Lieblingsessen oder was mag das Kind gar nicht.
 
Wie lange dauert dieser Prozess?
Die kürzeste Inobhutnahme kann in einer halben Stunde gegebenenfalls umgesetzt werden. Das haben wir hin und wieder gehabt. Das sind meistens sehr kleine Kinder. Es kann sich aber auch über Tage, manchmal sogar Wochen, hinziehen. Das Jugendamt wird vorab schon angefragt, bei Familien, wo Probleme vorhanden sind. In der Regel sind dann bereits ambulante Maßnahmen vorhanden und es zeichnet sich ab, dass es kritisch werden könnte. Das kann dann es schon mal 23 Stunden dauern. Dann werden die Kinder auch aus Krippen, Kindergärten usw. abgeholt und zu uns gebracht. Also es kann von einer halben Stunde bis zu 34 Stunden dauern, und manchmal eben auch mehrere Monate. Manchmal werden Kinder auch angekündigt und dann wieder abgesagt, weil sich die Sachlage wieder beruhigt hat, und dann taucht der gleiche Fall ein paar Wochen, oder auch Monate später wieder auf.

Wie geht dieser Prozess dann weiter?
Dazu gibt es eine riesengroße Auswahl, da gibt es ein richtiges Fluss-Diagramm. Also die Situation muss analysiert und ausgewertet werden. Es gibt da wirklich eine ganz, ganz breite Palette von Kindern, die zum Beispiel nur in Obhut genommen werden, weil die Mutter entbindet und von ihrem Umfeld niemand zur Verfügung steht, der die anderen Kinder, die schon auf der Welt sind, betreuen kann. In der Regel haben wir es allerdings schon mit Familiensituationen zu tun, bei denen meistens auch andere Problematiken vorhanden sind, die aber unter Umständen nicht dazu führen, dass das Kind länger als für den Zeitraum der Entbindung der Mutter und vielleicht noch so ein kleiner Puffer danach untergebracht werden muss. Dann gibt es auch nicht viel zu analysieren.
Es gibt aber natürlich auch die Fälle wo genau aus so einer Situation heraus ein Kind dann doch bleibt, weil es eben nicht zurückgeführt werden kann. Da haben wir wirklich schon die erstaunlichsten Geschichten erlebt.
Ist die Situation komplexer, dann muss tatsächlich gut hingeschaut werden. Wie kam es zur Inobhutnahme, wie ist die Perspektive? Es gibt drei mögliche Perspektiven. Ein Kind kann wieder zurück, weil man eben die Aspekte, die zu einer Aufnahme geführt haben, entsprechend bearbeiten kann. Die zweite Möglichkeit ist eine stationäre Unterbringung. Die Dritte ist eine Unterbringung in einer Pflegefamilie. Eine Perspektive für die Rückkehr muss immer vorhanden sein, das ist gesetzlich vorgeschrieben – dies muss im Grunde bis zur Volljährigkeit des Kindes immer wieder geprüft werden. Diese muss schon sehr unwahrscheinlich sein, um das Kind langfristig in ein anderes Familiensystem zu vermitteln. Wichtig ist natürlich, dass alle Beteiligten gut eingebunden sind. Wir sind im Grunde das Institut, das für die Unterbringung des Kindes zuständig ist. Wir werden in die Perspektiventwicklung meist stark mit einbezogen. Wir entscheiden aber letztendlich nicht darüber, ob ein Kind zum Beispiel zurückgeführt wird oder nicht  – auch nicht immer das Jugendamt. Manchmal leiten Familien auch ein gerichtliches Verfahren ein und legen dann zum Beispiel Einspruch gegen die Inobhutnahme ein. Dann haben wir das auch nicht so selten, dass Kinder in dieser Situation zurückgeführt werden, obwohl wir ganz massiv das Gegenteil empfehlen – aufgrund dessen, was wir am Kind sehen und eventuell auch an den Eltern, bei Elternkontakten, die bei uns im Hause stattfinden.
 

                                              Foto: Salberghaus / Kathrein
Können Sie über die Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern berichten?
Das Wichtigste ist so gut, wie möglich mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Häufig, wenn die Eltern bei der Inobhutnahme dabei sind, ist es im Sinne des Kindes, aber auch für die Eltern natürlich sehr hilfreich, wenn sie sehen, wo kommt denn mein Kind hin, was sind das für Menschen? Es ist ganz wichtig, dass die Eltern wissen: „Ich kann mein Kind auch bald wiedersehen“. Man muss natürlich abwägen, weil die Kinder auch erstmal Ruhe brauchen, um dort anzukommen, wo sie für den Zeitraum X leben werden. Das heißt, der nächste Tag bietet sich jetzt nicht unbedingt an. Aber der erste Kontakt nach Inobhutnahme, sollte möglichst innerhalb der nächsten zwei bis drei Tage stattfinden.
Und dann gibt es natürlich Gespräche mit den Eltern, die sehr unterschiedlich angenommen werden. Es gibt viele Eltern, die sehr gerne und sehr viel mit uns sprechen und denen es gut gelingt in die Reflexion zu kommen, die Situation anzuschauen. Hier ist die Zusammenarbeit oft sehr positiv. Es gibt aber auch immer wieder Eltern, die komplett abtauchen, und wir nie wieder was von ihnen hören. Dann gibt es Fälle, wo erstmal eine Zeit vergehen muss und die Eltern melden sich dann bei uns. In der Regel möchten sie dann ihr Kind sehen. Jetzt muss man natürlich ausloten, wie geht es dem Kind, wie lang war der Zeitraum, indem sich die Eltern nicht gemeldet haben, wie kann man das vermitteln? Und dann ist natürlich ein wichtiger Punkt, den Eltern zu vermitteln, dass sie ihr Kind sehen dürfen, das ist bis auf sehr wenige Ausnahmen möglich. Die Ausnahmen sind dann, wenn es eine schwere Misshandlung oder sexuelle Gewalt stattgefunden hat.
Wir sind häufig ein Scharnier zwischen Jugendamt und Eltern. Es gibt sehr viele Fälle, wo das Jugendamt der Feind ist, weil es das Kind in Obhut genommen hat. Wir sind dann die Guten, weil wir das Kind gut versorgen. Das wird häufig von den Eltern gesehen und anerkannt. Es ist mir immer wichtig gewesen, dass wir den Eltern gegenüber auch ganz ehrlich sind. Es ist wichtig gute Beziehungen zu den Eltern aufzubauen, aber auch die Dinge zu benennen, die kritisch zu sehen und zu bewerten sind.
 
Gibt es besonders schöne Geschichten, an die Sie sich gern zurückerinnern?
Ja, die schönste Geschichte, die mir dazu einfällt, das ist eine junge Frau gewesen, die war psychisch sehr krank, da waren sehr viele Störungen vorhanden. Sie war Anfang 20 und hatte selber eine Jugendhilfe-Geschichte im Hintergrund und dann hat sie ganz unvorbereitet einen kleinen Sohn bekommen. Sie wusste trotz Voruntersuchung nicht mal, dass sie schwanger war. Wir haben das Neugeborene in Obhut nehmen müssen, weil sie einfach von ihrer Erkrankung her überhaupt nicht in der Lage war, das Kind zu versorgen. Dadurch, dass die Schwangerschaft ungeplant war, fiel auch erstmals die Perspektive Mutter-Kind-Einrichtung weg. Es hat sich dann auch herausgestellt, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage gewesen wäre, sich in der Gemeinschaft einzufügen. Es kam dann auch raus, dass die Mutter während der Schwangerschaft, weil sie es nicht wusste, weiterhin ihre sehr starken Medikamente genommen hat. Der kleine Junge war allerdings kerngesund. Die Mutter war an dem Tag, als die Bereitschaftspflege kam, mit auf Station. Das kann wirklich ganz, ganz schwierig sein, wir hatten die Polizei auch vor Ort. Es ist aber dann tatsächlich so gut gelungen Vertrauen zur Mutter aufzubauen, dass sie das Baby der Bereitschaftspflege selbst in die Arme gelegt hat, ich sehe das heute noch vor mir. Es war wirklich ein schöner Moment.
Irgendwann wurde auch klar, dass das Kind in der Pflegefamilie gehen wird. Auch da war es so, dass ich das der Mutter übermittelt habe, am Anfang war das schwierig, weil sie immer davon gesprochen hat, dass sie ihn zu sich nehmen will, aber das war einfach nicht möglich. Er kam dann 2012 in eine ganz wunderbare Pflegefamilie und geht nun auch seinen Weg.

Welche (positiven) Veränderungen haben Sie über die Jahre beobachtet?
In den Wohngruppen hat sich tatsächlich der Stellenschlüssel und die Bezahlung sehr verändert. In jeder Gruppe wird angestrebt, immer eine dritte Kraft mit zu installieren. Also da haben sich die Arbeitsbedingungen in den Notaufnahmegruppen innerhalb dieser 20 Jahren wirklich deutlich verbessert. Das ist richtig gut.
Und in der Bereitschaftspflege werden die Bedürfnisse der Bereitschaftspflegekräfte heute besser und deutlicher gesehen. Wir müssen jetzt nicht mehr so sehr darum kämpfen, dass die Bereitschaftspflegekräfte, auch im Sinne des Kindes, nach einer Vermittlung in eine Dauerpflegefamilie noch Betreuungskontakt halten können. Früher war es so, dass am Tag des Umzuges der Kontakt abgebrochen ist. Wenn der Kontakt noch da ist, gibt es ein viel besseres Verständnis dafür, dass man gut hinschauen muss, welches Kind von welcher Pflegefamilie aufgenommen werden kann. Es gibt also immer Gegebenheiten in der Familie, Dinge zu berücksichtigen und da hat sich tatsächlich viel verbessert.
Übergeordnet würde ich sagen, was für beide Bereiche gilt ist, dass das Verständnis bei den Jugendämtern, dass wir in die Perspektiven der Kinder mit einbezogen werden sollen viel größer geworden ist und auch die Bereitschaft, uns Informationen zu geben, um das Beste für das Kind zu tun.

Was ist besonders wichtig bei der Auswahl der Bereitschaftspflegeeltern?
Wir versuchen, Menschen zu gewinnen, die eine einschlägige Ausbildung haben. Das ist allerdings nicht immer der Fall. Es ist ganz wichtig, dass es ein Verständnis für diese besonderen Kinder mit der besonderen Lebenssituation gibt und auch für ihre Eltern, und dass es da keine Verurteilung der Lebensumstände und der Menschen gibt, die die Situation herbeigeführt haben. Es ist ganz wichtig, dass wir auch bei Versäumnissen und Fehlern der Eltern, den Kindern helfen, eine positive Identität zu entwickeln und da gehören die Eltern mit allem, was sie gut und schlecht gemacht haben dazu. Man kann die Aufgabe der Bereitschaftspflege nicht erfüllen, wenn man Teil des Kindes, also die Eltern, stark ablehnt. Das heißt aber nicht, dass man alles gutheißen muss, was passiert ist, man muss die eigene Meinung aber von dem Kind fernhalten. Hinzu kommt Wärme und ein empathisches Versorgen des Kindes. Eine gewisse Klarheit und die Fähigkeit, sich abzugrenzen von dem, was an schlimmem passiert ist, spielt auch eine Rolle. Und dann natürlich die Fähigkeit, Abschied zu nehmen, weil die Bereitschaftspflege ist nicht als Dauerpflege angelegt. In der Regel dauert die Bereitschaftspflege nicht länger als drei bis sechs Monate, was aber in der Praxis nicht immer ganz gelingt. Wir sind aber immer darauf bedacht, die Bereitschaftspflegeeltern so gut wie möglich zu unterstützen. Da ist es ganz wichtig, dass ein gutes Vertrauensverhältnis besteht und die Bereitschaftspflegekräfte sich auf uns verlassen können und wir uns wiederum auf sie verlassen können, auch dass sie rechtzeitig sagen, wenn es irgendwo hakt, damit man gegensteuern kann.

Das Interview führte Christina Beischl, one77-consulting