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30.06.2022 - "Man lernt früh, aufeinander acht zu geben"


Jennifer Teege, die 2013 mit Ihrer Autobiografie Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen bekannt wurde, berichtet in ihrem Bestseller auch von ihrer Zeit im Salberghaus. Mit uns spricht sie darüber, wie sie die Zeit dort empfunden hat und wie sich diese Erfahrungen auf ihr Leben ausgewirkt haben.        

                                            Jennifer Teege 

                                                                  

"Frau Teege, wie würden Sie Ihre Zeit im Salberghaus beschreiben?

Als prägend. Dort habe ich die ersten drei Jahre meines Lebens verbracht. Viele Studien belegen, dass im Leben eines Kindes gerade die ersten drei Jahre von zentraler Bedeutung sind. Dass diese wichtige Phase entscheidend ist, um eine Basis, einen Schatz für später anzulegen. Aufgrund der schwierigen familiären Verhältnisse konnte ich nicht im Haushalt meiner leiblichen Mutter aufwachsen. Das Salberghaus hat mir trotzdem einen tollen Start ins Leben ermöglicht. Dafür bin ich der Einrichtung sehr dankbar.

 

Und gibt es dann auch eine Erinnerung, die sie besonders schätzen?

Ja, es gibt Erinnerungen, aber zum Teil sehr verschwommen. Man muss es sich wie Standaufnahmen vorstellen, nicht wie bewegte Bilder. Ich kann mich zum Beispiel an den Flur erinnern, an den Aufenthaltsraum, an den Weihnachtsmann, der dort Geschenke verteilt hat. Ich erinnere mich auch an Schwester Dorothee, unsere Gruppenleiterin. Die Gruppe war bunt gemischt, es gab auch Kinder mit Behinderung. Obwohl wir eine große Gruppe waren, wurde Gemeinschaft großgeschrieben. Ich kann mich nicht erinnern, mich dort jemals ausgeschlossen gefühlt zu haben. Dabei kenne ich dieses Gefühl, vielleicht auch wegen meiner Hautfarbe, aber ich verbinde es nicht mit dem Heim. Ich glaube, dass Gruppen Kinder fördern können. Man lernt früh, aufeinander achtzugeben, man lernt tolerant zu sein, sich anzupassen. Entscheidende Kompetenzen, die einem im späteren Leben weiterhelfen. 

Gab es eine Bezugsperson, die Sie besonders geprägt hat oder die einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat?

Ja, Schwester Dorothee. Ich habe sie später kontaktiert. Wir haben uns getroffen und uns lange unterhalten. Ich erinnere mich, dass es im Heim eine Unterscheidung zwischen Schwarz und Weiß gab. Die Nonnen in weißer Tracht haben den Alltag mit uns verbracht. Sie haben unsere Windeln gewechselt, uns gefüttert, mit uns gespielt, sich um uns gekümmert. Schwester Dorothee trug eine weiße Tracht. Die schwarz gekleideten Ordensfrauen waren tagsüber sichtbar, sie liefen im Haus herum, waren aber anderweitig beschäftigt. Obwohl ich wenig mit ihnen zu tun hatte, ist meine Erinnerung mit Angst behaftet. Es muss also eine gewisse Strenge geherrscht haben.
 

Und wie hat sich die Zeit im Heim auf ihr Leben ausgewirkt?

Ich bin froh, im Salberghaus untergekommen zu sein. In der Regel kommen Kinder aufgrund einer Notlage ins Heim, ein Heimaufenthalt ist ja kein Ferienaufenthalt, und bei mir war es nicht anders. Meine Mutter war alleinerziehend und in einer Beziehung mit einem gewalttätigen Mann. Da ist das Salberghaus eingesprungen und ich bin drei Jahre geblieben. Später wurde eine Pflegefamilie für mich gesucht. Bei der Auswahl ist man sehr gründlich vorgegangen. Für die damalige Zeit, ich bin schon 1970 ins Heim gekommen, war das nicht selbstverständlich.

Von Schwester Dorothee weiß ich, dass es in den Biografien ihrer Schützlinge viele Brüche gibt, aber, und das ist interessant, auch eine beachtliche Anzahl von „Erfolgsgeschichten“. Kinder, die zuerst einen nicht ganz so geradlinigen Weg eingeschlagen haben, aber später dann doch ihr Glück gefunden haben.

Ich bin heute Botschafterin der Ehlerding Stiftung in Hamburg. Wir arbeiten mit belasteten Familien und vermitteln ehrenamtliche Paten. Jeweils ein Kind und ein ehrenamtlicher Pate bilden ein Tandem. Sie fangen an, sich regelmäßig zu treffen und Zeit miteinander zu verbringen. Wichtig dabei ist, eine gemeinsame emotionale Verbindung aufzubauen, denn die Patenschaften stellen eine verlässliche Beziehung außerhalb der Familie dar. Es sind die kleinen Dinge, die die Kinder nachhaltig beeinflussen können.
 

Was würden Sie den jetzigen Heimkindern gerne sagen, wenn sie könnten?

Heime können das Aufwachsen in einer behüteten Familie nicht ersetzen. Aber für Kinder ist dieses Gefühl, da ist etwas, jemand der mich hält, jemand der an mich geglaubt, sehr wichtig. Ein stabiles Selbstwertgefühl ist die Grundlage für ein gelungenes Leben. Es ist wichtig, eine Person zu haben, die einem sagt, man ist richtig, so wie man ist. Wir alle haben innere Stimmen im Kopf, die pausenlos zu uns sprechen. Diese Stimmen können positiv oder negativ sein. Sie können uns ermutigen oder niederdrücken. Fast immer sind diese inneren Stimmen äußere Stimmen, die sich über Jahre manifestiert haben. Die schreienden Eltern, der übergriffige Onkel. Diese Stimmen sind destruktiv und viele haben ein Leben lang mit ihnen zu kämpfen.

 

Aus Ihrer Erfahrung heraus, was könnte man als Heimeinrichtung verbessern oder zusätzlich tun?

Im Kern geht es immer um Beziehungen und um Vertrauen. Ich weiß, aufgrund des begrenzen Zeitrahmen, in denen viele Kinder in Einrichtungen untergebracht sind, ist das oft schwierig. Und es gibt viele unterschiedliche Familienkonstellationen, aus denen die Kinder kommen, was es auch nicht leichter macht. Aber eine vertrauensvolle, eins-zu-eins-Beziehung zu einem Menschen, ist das A und O. Kinder lernen über Beziehungen. In Gruppensituationen ist es oft so, dass das Individuum zu kurz kommt. Deshalb wäre es gut, einen vernünftigen Betreuungsschlüssel zu haben, der jedem Kind eine ausreichende eins-zu-eins-Betreuung garantiert. Menschen brauchen Zuwendung. In diesem Sektor sollten nur Menschen arbeiten, die ihre Arbeit nicht als administrative Tätigkeit, sondern die es als Herzensangelegenheit verstehen.“

Das Interview führte Christina Beischl von One77-Consulting